ulrike | katharina

ulrike hütet die stimmen von tieren
die wie menschen sprechen
in der nacht träumen die tiere
von raubmenschen die den schlaf bewachen
ulrike hütet auch die blicke von pflanzen
die menschen beobachten
in einem netz aus spinnenfäden
verfangen sich die seltsamsten wesen
steine eine hand voll erde
ganze meteoritenschwärme

katharina trägt ihr neues kleid und high heels
bei einem meeting will sie
einen text über die erträge des lyrischen ausdrucks besprechen
auch onkel wanja wird kommen
und fragen ob sie den sommer mit ihm
auf seiner veranda verbringen will
bei limonade guten gesprächen
und den immer erneuten blicken
hinaus auf die weizenfelder
und den wald am anderen ende der landschaft

katharina liest aus ihrem geld
poesie erfährt plötzlich einen mehrwert
ulrike zieht mit einer roten basecap
und einer flasche absinth in den wald
mitten durch ein wiederansiedelungsgebiet für wölfe
für großmütter gibt es so etwas nicht
in den netzen zwitschern die vögel
und kleintierjäger schmücken sich mit trophäen
ratten und wanzen
aufgespürt von einer meute unbemannter drohnen

katharina berichtet davon bei einem meeting
sie sagt sie hätte noch nie
so viele unglückliche zuhörer gehabt
und am ende liest sie
einen brief von ulrike vor
die weilt schon wieder in indien
oder kasch mir

sweet herbst sixteen (4-7/14)

(14 (letzte) sonette)

4

ach, nach vier woch’n fällt das laub jetzt wirklich,
liegt leichenbunt auf allen meinen straßen,
da bin ich – solchem einerlei – versprech’ mich
und schau mich an im spiegel meiner strafen.

die leg’ ich selbst mir auf und an, gewand
der nacht, in t-shirt und der unterhose
am schreibtisch, wo mich tasten wiederfand
im denken, schreiben, fühlen, wichsen – lose.

nocheinmal diese strenge form, korsett,
verweigernd, feiert hier doch das sonett
im reimgeschwind sein fröhlich urgeständ.

als könnt’s nicht anders, leibt es noch als schaf
und hat noch vor ein zehnfach sich verschwend’,
bevor ich drüber buchgestäbe brach.

5

es muss sich so vollenden: noch die fünfte
sonettensymphonie. denn während ich
bekifft saß auf der party gestern, hüpfte
ein seifenfläschchen in die zeilenpflicht.

aus rosen wie der liebe unverstand
war es erblüht. und wie ich’s daraus goss
in meine scribble-scrabbelnd dichterhand,
war’s duftend, was aus solchem ich genoss.

sonett_handseife_rose_web

es war auf der toilette eines weibchens,
wo sitzen muss der mann und nicht versprüht,
was aus ihm rinnt, dies trüb vergilbte schleichen,

das schwarz bis licht und weiß an ihr verglüht.
ich wasch’ mich, bärig bärtig in der maske,
ich weiß, dass ich bei ihr nicht lange raste.

6

am folgetag nach dieser nacht-imago
entschlüpf’ ich dem kokon als blätterfalter.
ich flüg’le kurz, dann brennend wie schiwago
an seiner lara schwerster brand-verwalter:

ein omar und sharif der antipowa.
ich träumte scharf und „om!“ von hollywoods,
von kriegen, frieden, russland und der shoa,
denn es war herbst und alle ohne schutz –

ein deutscher herbst wie sieben und auch siebzig,
ein fall wie im november neu und achtzig,
und ein vergehen wie das welke blatt,

das über straßen weht und keine ampel,
nicht ihre farben kennt, nur das gehampel,
das jedes wort, das ich gedichtet, hat.

7

auf halbzeit nun und in die blaue pause
schreibt reimend immer noch mein ich – und wischt
die wohlgefall’nen verse in die jause,
in eichenlaub und derb geschnitzten tisch.

denn ich erlaube mir noch einmal laub,
gefallenes nach frühling zu besingen.
in den gewinden meiner schrägen schraub’,
zieh’ ich register allen orgelklingens.

es wird absurd, wie das so nette kettet
den einen an den and’ren heimend vers.
es muss ein abschied sein, und der verzettelt:

hier ist der alt verweg’nen form ein herbst.
ich geb’ ihm meine blätter zum verwelken,
reim’ längst schon nicht mehr rein in solche kälten.

← 1-3

Im Novemberlicht

ταὐτὸ ζῶν καὶ τεθνηκὸς καὶ ἐγρηγορὸς καὶ καθεῦδον
καὶ νέον καὶ γηραιόν· τάδε γὰρ μεταπεσόντα ἐκεῖνά ἐστι
κἀκεῖνα πάλιν μεταπεσόντα ταῦτα. (Ἡράκλειτος)
“Es ist immer dasselbe, Lebendes wie Totes, Waches wie
Schlafendes, Junges wie Altes. Das eine schlägt um in
das andere, das andere wiederum schlägt in das eine um.”
(Übersetzung Gadamer)

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Wenn dieser Zug auf der Strecke bleibt, wird Nichts,
die Uhrwerke dann unbestimmt, kein Ticken, kein Stück.
Letzte Schleiereulen zischen, lösen sich auf in Lava.
Es geht eines im anderen auf. Objekte zerfließen,
ihre Schatten sind ohne Umriss, mehr wie ein Stöhnen
im Traum oder das Summen unbekannter Lieder.
Es ziehen noch Schlieren des Gefressenen vorbei,
grau und schön, einsam in ihrer Selbsteinigkeit,
unisono; dies Gemisch, das keine Teile hat.
Von der breiten Fläche allgemeiner Materie
stößt sich nichts ab, alles bleibt eingemeindet,
untereinander und miteinander vermengt.

Kunstlektüren

Als du noch klein warst und noch keine Texte lesen konntest, sondern nur Bilder, als du deine Mittagszeit auf dem weichen Sofa im Winkel hinter dem Vorhang verbrachtest beim Bild von St. Bartholomä am Königsee – rühren durftest du dich nicht, denn du warst vorher zur Tür gerannt und hattest laut “Auf Wiedersehen” gerufen und warst dann zurück geschlichen, hinter den Vorhang – als du also, abgemeldet und doch zur Stelle, auf dem Sofa lagst und alle Zeit der Welt hattest, die Ölkleckse auf einem rasch kopierten Gemälde zu studieren, da hast Du ein für alle Mal gelernt, Felswände zu lesen.

Dann kamen allerlei Träume (oder Fernsehbilder): Felswände, dunkelblau, vor dunkelblauen Wolken, Mahler im Hintergrund oder Wagner, dahinter weiß ein paar Lücken für den Abendhimmel, du fliegst und zoomst, wie es dir der Augenblick eingibt, Gesang der Geister über den Wassern, Ossian, Urworte Orphisch, Klopstock, und so weiter und so weiter, alles in Stein gemeißelt, wie es euch gefällt. Du machst Dich, an der Felswand, Kletterroute Grad 6, zum Affen mit der Schreibmaschine und schreibst ein paar Takte am Faust. Und man bewundert dich und gibt dir Schleifen ins Haar und Blumensträuße für die Russischlehrerin mit in die Schule und am Klavier, Spezialkonstruktion für Wunderkinder, lernst Du den kleinen Prinzen kennen und führst mit ihm eine kleine, zarte, allerliebste Konversation (“Für Elise”).

Auf dem Elektroboot am Königssee, dem Schaufelraddampfer am Chiemsee, der Plätte am Toplitzsee, dem Ruderboot am Mälarsee – immer und immer wieder kehrt das Gewitter zurück. Und mit glasklaren Kopf kannst du an der gegenüberliegenden Felswand lesen, ob dir noch beschieden sein wird, das Ufer zu erreichen. Nieder mit Öl und Graphit. Ad fontes (Traunquelle?)! Zurück zu den Tatsachen. Die Rückseite eines Ölbildes besteht aus Leinwand, nicht aus der weiten Welt.