Kunstlektüren

Als du noch klein warst und noch keine Texte lesen konntest, sondern nur Bilder, als du deine Mittagszeit auf dem weichen Sofa im Winkel hinter dem Vorhang verbrachtest beim Bild von St. Bartholomä am Königsee – rühren durftest du dich nicht, denn du warst vorher zur Tür gerannt und hattest laut “Auf Wiedersehen” gerufen und warst dann zurück geschlichen, hinter den Vorhang – als du also, abgemeldet und doch zur Stelle, auf dem Sofa lagst und alle Zeit der Welt hattest, die Ölkleckse auf einem rasch kopierten Gemälde zu studieren, da hast Du ein für alle Mal gelernt, Felswände zu lesen.

Dann kamen allerlei Träume (oder Fernsehbilder): Felswände, dunkelblau, vor dunkelblauen Wolken, Mahler im Hintergrund oder Wagner, dahinter weiß ein paar Lücken für den Abendhimmel, du fliegst und zoomst, wie es dir der Augenblick eingibt, Gesang der Geister über den Wassern, Ossian, Urworte Orphisch, Klopstock, und so weiter und so weiter, alles in Stein gemeißelt, wie es euch gefällt. Du machst Dich, an der Felswand, Kletterroute Grad 6, zum Affen mit der Schreibmaschine und schreibst ein paar Takte am Faust. Und man bewundert dich und gibt dir Schleifen ins Haar und Blumensträuße für die Russischlehrerin mit in die Schule und am Klavier, Spezialkonstruktion für Wunderkinder, lernst Du den kleinen Prinzen kennen und führst mit ihm eine kleine, zarte, allerliebste Konversation (“Für Elise”).

Auf dem Elektroboot am Königssee, dem Schaufelraddampfer am Chiemsee, der Plätte am Toplitzsee, dem Ruderboot am Mälarsee – immer und immer wieder kehrt das Gewitter zurück. Und mit glasklaren Kopf kannst du an der gegenüberliegenden Felswand lesen, ob dir noch beschieden sein wird, das Ufer zu erreichen. Nieder mit Öl und Graphit. Ad fontes (Traunquelle?)! Zurück zu den Tatsachen. Die Rückseite eines Ölbildes besteht aus Leinwand, nicht aus der weiten Welt.

Ohn’ Ringelnatz

Am grünen Steinwall kurz nach Mitternacht,
wo runde, ungesunde Bögen angespannt
und mutlos um ihr Unverständnis bangen,
sitz’ ich mit meinem Ungemach: den Pokémons,
dem Unterwassermann und tausend Leiden.
Als hätte sich ein Dichter hier was ausgedacht,
als wäre ich im Kopf längst weggerannt,
als könnte mich ja keiner fangen.
Na, und sonst?
So manches mal bleibt eben nichts als Bleiben.

b

fließen stimmen den abhang der zeit hinab
drängt gedankenschutt zu tal
im netz der landschaft
verfangen sich die letzten flüssigkristalle
einer früheren epoche
geh ich den weg der monde und gestirne
sind sanduhren gefüllt mit falterstaub
erinnerungen einsamkeiten
schwarze löcher
bleibst du bleibe ich
stehen
staunen wir
fülle ich noch einmal die zeit mit moränen
rotkehlchen gesängen stille
stille
so groß wie zwei karseen im winter
so weit die arme reichen
die hände begreifen
deinen leib unter schnee
den amselleib
lass die haut blühen im frühling
mit den himmelsschlüsseln
buschwindrosen auf rabatten zwischen kieswegen
und mauern
zählen wir magnetisch im schwerefeld der liebe
21 22 23 schatten legen sich neben uns
durchschnitten von einem strom aus stimmen
können wir durch glas gehen
mit den zugvögeln kehren die raketen zurück
die flakgeschütze landminen kindersoldaten
in aussichtslosen stellungen an einem abhang
reicht weit der blick über nomadenzelte

nein/eleven/fifteen

wie babylon gestürzt, die herrschend türme,
sah ich das einst vor 15 dieser jahren.
es war, als wär’ das ende der gewürme
aus himmlischem der heere finstrest scharen.

ich war damals auf seiten attentäter,
dem letzen allah.ruf, dem sehr verbunden.
doch wusste ich, als davon vielmehr später
die nachricht sich verdichtet und bekunden

war „ground zero“, wie ich ihn erdichtet,
ein schmerz, verheerung und das schlimme grauen.
ich wusste, wo ein schwarzes sich belichtet,

und war in babylon, im turm, vertrauen,
dass sich ein sturz und ebenso erhebt,
was stirbt, sich umso grausamst wied’ erlebt.

ögyr liest’s

undulation

1
großes herzecho an der wand
hängen gemälde von bruegel
du spielst violine

2
wir falten blumen zu gedichten
und verfüttern sie an die ungläubigen
hautflügler

3
adonisfalter wollen wir sein
auf einem röntgenbild
mit lungenflügeln

4
du atmest groben sand
mit den flugzeugen
ziehen stare übers gebirge

Postillion

Ich stolpere über frischgeteerte Wege
zum stets von dir verlassenen Haus,
erkennbar bleibt der Abdruck in der Leere.
Die Gärten, die ich sehe, beben, und ich rede
zu ihnen hin in Worten aus Asphalt, halt so Metaphern,
hart in sich gestaucht – erledigt, ausgelaugt und alt.
Als hingemalte Tonkulisse nun Gitarrenklänge,
aus dem Tattoo-Geschäft dringt Abenteuerlust,
ein Duft von Zigarettenrauch, auf nackter Frauenhaut
blühn passioniert so tintenblaue Blumenstängel.
Wer trägt denn heut noch Briefe dumm herum, und wirft
sie dann durch blinde Schlitze stummer Wohnungstüren?
Sorgsam gefaltet liegen Seiten im Kuvert,
die dummen Wörter sind darin versteckt und eingesperrt,
die Silben, Stotterblumen, Endmoränen, Trost
liegt schwer im Mund: ein Wort aus rotem Mantelstoff
wie eine Hoffnung, die am Ende runterfloss,
und warmer Regen spritzt am Ende des Azorenhochs.

Verkostet

Plankton an Panik
Seegras mit Sorgensprossen
Sind noch lange kein
Poetisches Abendmahl
Lemminge stromschnellenweise
Zwischen die Zeilen gekübelt
Zwielicht auf Trüffelschaum
Füllt die lyrische Sauciere
Lemuren mit Lemon
Angstdudler im Abgang
Ergibt noch lange kein
Philosophisches Sternemenü

Berlin, General-Woyna-Straße

Da zerkrümelst Du Deinen Käsekuchen
im Eckcafé
während der fremde Hunger
in Variationen
auf Deiner Lichterkette klimpert

überall gleichen die Fassaden hier
der Mütze
an der Deine Parzen einst strickten
– wie wenige Tode
ist das erst her?

noch bist Du
viel zu schwer für den Luftballon
mit dem Du zurück in die Kindheit fliegst
unter jenen Baum
zu jenen Tauben
in jene grünen Tage
als die Versprechen nur gefilmt wurden
aber noch nichts galten
als Du Dein eigener
gütiger Regisseur warst
und die Drehtage
ganz unvergütet blieben.