Haben Sie schon einmal gesehen, wie die Zielscheiben aussehen, an denen Soldaten bei Manövern Schießübungen betreiben? Es gab vor einiger Zeit eine Fotoausstellung, da konnte man eine internationale Sammlung solcher Zielscheiben sehen. Viele waren menschenförmig. Und da Arme kein besonders wichtiges Ziel für einen Soldaten sind, hatten manche von ihnen gar keine Arme, sondern einfach einen Kopf und einen Rumpf. Manchmal waren sie mit Gesichtern bemalt, manchmal einfarbig, manchmal drei- und manchmal nur zweidimensional. Sie können sich diese Zielscheiben vorstellen? Gut. Nun denken Sie sich aber bitte nicht mehr die Zielscheiben selbst, sondern ein Passepartout für Zielscheiben. Und zwar ein zweidimensionales Passepartout für eine zweidimensionale Zielscheibe, bestehend nur aus Kopf und Rumpf – aus einem normalen Kopf und einem ganz normal breiten Rumpf. Und jetzt stellen Sie sich bitte vor, dass durch diese Zielscheibe Licht fällt. Ein sehr weißes Licht, aber nicht unangenehm weiß, gerade noch nicht blendend weiß und auch nicht steril, sondern mit einem ausreichenden Anteil an warmen Lichtfarben. Und nun stellen Sie sich bitte vor, dass dieses Passepartout und dieses Licht hinter dem Passepartout immer wieder auf Sie zu gehen – oder nein, nicht “gehen”, denn der Rumpf hat ja keine Beine- Oder Sie haben nur nicht so genau hingeschaut und er hat sie doch. Vielleicht läuft der Runpf ja in ein langes Gewand aus, unter dem sich doch noch Beine verbergen? Jedenfalls trampelt das Passepartout nicht, wenn es sich nähert, bewegt sich aber doch auf Sie zu. Und obwohl es zweidimensional ist und das Licht dahinter auch nicht besonders schwer, ist es auch nicht instabil. Ob das Passepartout oder das Licht dahinter irgendetwas sagen können, ist nicht so klar. Es könnte schon sein, aber wahrscheinlich sprechen sie nicht in menschenförmiger Sprache, denn die passt nicht zu einem solchen Passepartout oder zu einer ominösen Lichtquelle.
Das Merkwürdige an diesem Passepartout und seiner Beleuchtung ist nun, dass Sie in jeder Situation schon wissen, wer sich nähert. Sie kennen denjenigen immer schon, der da ankommt. Dabei haben Sie das Passepartout eigentlich nie näher kennengelernt, haben ihm nie die Hand geschüttelt (wie auch, wenn das Passepartout gar keine Arme hat?). Wie kann das sein? Nun, das ist ganz einfach, lässt sich aber trotzdem einigermaßen schwer erklären. Es kommt gar nicht so sehr auf das Passepartout an, sondern darauf, wer gerade dahintersteckt. Letzteres aber erkennen Sie genau, wenn auch weder an den Lichtwellen, die aus der Rahmung hervorquellen, noch an einem spezifischen Schatten noch an einem besonderen Klang, Geruch oder Gefühl. Es ist Ihnen einfach so klar, ohne weiteres Nachdenken und ohne genauere sinnliche Hinweise. Sie sehen das Passepartout an – und augenblicklich wissen Sie: Ah, das ist ja mein Vater oder mein Bruder oder mein Geliebter oder mein Schulkamerad oder ein lebender oder verstorbener Freund oder ein Lehrer oder wer auch immer … Ist es nicht so, dass wir alles Wichtige schon immer wissen? Und wenn das Passepartout daher kommt, sichtbar daherkommt, meine ich, dann muss es schon wichtig sein.
Heute brechen Sie mit ihm auf. Sagen wir, in den Harz. Heute hat es die Eigenschaft, sich ständig zu verändern– und das macht es so: Sobald Sie einmal wegschauen, nähert es sich von neuem . Und jedesmal, wenn es sich nähert, ist es schon ein anderer. Außerdem gilt heute auch: “Ich ist ein anderer”. Sie blicken dem veränderten Passepartout in die Strahlen und wissen, dass auch Sie sich schon wieder verändert haben.
Heute haben Sie die Eigenschaft, überall zu spät zu kommen. Sie wollen essen – und es wird gerade abserviert. Sie betreten einen Vortragsraum – und die Stühle werden in diesem Moment auf große Stapel gestellt. Sie eilen in die Kirche – und hören die letzten Töne der Orgel. Aber zu allen Überraschungen, die für Sie bereitgehalten werden, kommen Sie pünktlich. Die sonderbarste allein, werden Sie später im Gedächtnis behalten. Sie stolpern einen Hang hinunter, einen komplizierten Hang, halb in den Alpen gelegen, halb an den lieblichen Hängen des Neckars. Und als Sie mehr oder weniger unten ankommen – schon wieder zu spät natürlich, für das, was Sie geplant haben – kommen Sie gerade rechtzeitig, um Ihre sieben Kinder zu bewundern. Nun wussten Sie ja noch gar nicht, dass Sie sieben Kinder haben. Sie kennen auch die Namen nicht. Und Sie sind erstaunt, dass sich die Kinder trotzdem um Sie drängen, als wären Sie ihre Mutter. Und während Sie sie streicheln, fallen Ihnen alle die Morde ein, die in der Nachbarschaft dieser Kinder begangen wurden. Und es fällt Ihnen ein, dass es bis zum Abend noch viel mehr Morde begangen sein werden, und dass Sie nichts werden tun können, um die Kinder in irgendeiner Form vor diesem und jenem zu schützen. Eines wird in den Brunnen fallen und ein anderes wird taub werden. So viele Lebensläufe tanzen Ringelreihen vor ihren Augen. Als das Passepartout heimkommt – oder kommt es, um Sie heimzuholen? – und als sie ihm entgegenstolpern, sind Sie aber schon nicht mehr die Mutter dieser sieben, sondern deren Schwester. Und bald darauf sind Sie ein Kind, Ihre Kinder aber, sind längst erwachsen geworden und nicht mehr Ihre Kinder.
So geht es in einem fort. Gerade waren es sieben Kinder, bald werden es sieben Häuser sein, die aber bis zum nächsten Tag alle verbrannt sind. Oder Sie werden mit sieben Hunden spazierengehen, die bis zum Abend alle entlaufen. Würde das Passepartout Sie nicht überall wieder abholen, Sie nicht leicht machen zum Fliegen, was täten Sie nur, mit diesem spärlichen Leben und dem vielen, das darin zu erleben ist?