Letztes

Flüsternd vermacht er den Freunden, was nicht zu erben ist. Zu verteilen ist nur eines noch: Fleisch und Blut, die morgen nicht mehr lebendig sein werden.

Die letzte Rechnung ist an dieser Stelle noch nicht einmal überschlagen, aber schon schaltet die Angst das Neonlicht ein über denen am Tisch.

Das Brot wird von nervösen Händen zerkrümelt, der Wein aus den zu schnell geleerten Gläsern rinnt über den Rand. Die letzte Zigarette dreht sich zwischen seinen Fingern. Es lacht einer mit schwerer Zunge, knöpft das Hemd auf und bietet der Täuschung die Brust. Und einer schüttelt den Kopf zu allem, was gesprochen wird, und wiegt sich hin und her. Der dritte dreht sich weg und reißt geschäftig welke Blätter aus den Töpfen auf der Fensterbank.

Und Du schaust zu ihrem Tisch und siehst dort nichts als goldene Kerzen: Wie flackern sie Dir so mild!

Wiederkehrende Berge

Ganz gewiss sind es hohe Schweizer Berge, die mir in diesen Träumen erscheinen.

Vielleicht stammen sie aus dem Wallis oder sie liegen in Graubünden, irgendwo an der italienischen Grenze.

Fast würde ich vermuten, dass es sich um das Gebirgsmassiv zwischen Chiavenna und St. Moritz handelt: Wie wir alle wissen, verkehrt zwischen beiden Ortschaften sogar ein Bus, was eigentlich unglaublich ist, wenn man sich ansieht, wie steil sich die Berge oberhalb von Chiavenna auftürmen.

In den Träumen nähere ich mich diesen Bergen aber nicht von Chiavenna aus, sondern, wie gesagt, von der Schweizer Seite. Übrigens auch nicht von St. Moritz aus, denn mit St. Moritz haben meine Träume ganz sicher nichts zu schaffen.

Als gesichert muss gelten, dass es sich um schwer zu erreichende Berge handelt. Vom Ausgangspunkt im Flachland aus braucht man mit einem alten, turmhoch mit Gepäck vollgepackten Golf mindestens acht bis neun Stunden. Gleichzeitig sind die Berge dann aber überraschend schnell da.

Zuerst bilden sie eine fast undurchdringliche Wand und vermutlich stammt genau daher die oben angeführte Chiavenna-Assoziation. Sehr schnell aber, nur eine Biegung auf der Autobahn oder Schnellstraße ist seither vergangen, zeigt sich ein Tal, in das man hineinfahren kann.

Sobald ich das Tal erblicke, wird mir klar, dass diese Berge eine Ähnlichkeit mit dem Gebirge auf dem alten Sagaland-Spielbrett aus den 1980er Jahren haben (dass sie dort ein Märchenschloss mit spitzen Türmen umgeben und dass ich aus Geschmacksgründen darauf verzichte, dieses Märchenschloss im Traum zu reproduzieren, muss ich wohl nicht extra erwähnen).

Was die Berge in den Träumen mit dem Gebirgsmassiv auf dem Sagaland-Spielplan gemeinsam haben, ist eine gewisse kristalline Durchsichtigkeit. Sie sind also sehr hoch und ein Bisschen durchsichtig und sehen damit etwas anders aus als die vielen echten Berge, die ich schon gesehen habe.

Daran wird natürlich sofort deutlich, dass es sich um Paradiesberge handelt. Das heißt natürlich nicht, dass sie zur Gänze aus dem kitschigen Regenbogenbärchentraum stammen, den ich mit fünf oder sechs Jahren den Ausstellungsstücken im obersten Stockwerk des Kinderladens und meinem moderaten Fernsehkonsum verdankte.

Aber in winzigen Spuren erinnert die Gebirgslandschaft sogar an das Panorama des Regenbogenbärchentraums.

Sofort, wenn ich die Taleinfahrt erblicke, weiß ich, dass es im Tal eine sehr steile, aber vollkommen gerade Straße gibt, die weit bergauf führt, dass mein Vater hinauffahren wird, bis ans Ende und dass wir dann aus dem Auto aussteigen und die Thermoskanne mit dem Schwarzen Tee nicht mitnehmen werden.

Aber ankommen werden wir mit unserem alten Auto dort natürlich nie. Es wäre ja ganz und gar verboten, in Träumen die Straße zu den Paradiesbergen bis zum Ende zu fahren.

Tatsächlich kommt es so: Entweder der Cherub schneidet mit seinem flammenden Schwert schnell den Traum ab und ich erwache, oder die schnurgerade Autobahn, auf der wir den Bergen entgegenfahren, nimmt überraschend doch noch eine Kurve – und hinter der Kurve steht unerwartet noch eine bis dahin vollkommen unsichtbare Tankstelle. Sobald wir an der Tankstelle angekommen sind, erinnern wir uns natürlich sofort, dass wir etwas Entscheidendes (wahrscheinlich gar den Geldbeutel) vergessen haben und erst noch einmal acht bis neun Stunden zurückfahren müssen.

Dass wir in diesen Träumen jedesmal richtig Gas geben, sobald die Berge in Sicht kommen, ändert nichts an ihrer Unerreichbarkeit. Die Cherubim und die Tankstelle lassen sich leider nicht überholen.

51

Jeden Morgen stellt dich der Schneepflug mit seinen Scheinwerfern zur Rede

Deine Lippen aber hat noch niemand geöffnet

Noch weißt du das Ende
der gestrigen Tagesgeschichte
Der Abend hat das Licht deiner schmetterlingsbunten Berge
in seinem Nebel begraben
Und dann hast du im Wirtshaus
wieder die Zeitungen und Mären buchstabiert
bis auf den letzten Satz

Jetzt ist der Schnee frisch aufgebettet
Und wenn Du ihn unter Deinen Schuhen niedertrittst
wird er bis zum Rückweg nicht mehr von dir gezeichnet sein

Drei Mal verändert sich das Land auf deinem Weg
als wäre er drei Tage lang

Deine Lippen hat aber noch niemand geöffnet

Hinter dem Vorhang stehen
soeben erwacht
die Holzfiguren beisammen und tuscheln über dich
als wärest du der einzige
den in der vergangenen Nacht der Schlaf übermannt hat

Wie leicht könnten sie zu Asche werden
wenn sie deinem brennenden Herzen zu nahe kommen

Deine Lippen hat noch niemand geöffnet

Frauenabend

Er vermutet schon lange, dass zum ideellen Vermögen der weiblichen Weltbevölkerung (ihren materielle Besitz kann man vernachlässigen) der Abend gehört. Frauen ziehen sich grundsätzlich in den Abend zurück. Der Abend hat lange weiße Arme, was gut zu den Frauen passt.
Weißarmige Abende sind für ihn immer Marienabende, eine lange Litanei, eine Gebetskette, die sich treppauf und treppab zieht. Eine Regel, die noch von früher her gilt: Er darf länger aufbleiben, wenn er dieser Kette folgt, im Mai vor allem oder im Oktober. In den Taschen mancher Betenden sind Lavendelsäckchen verborgen. Und im Taschentuch manchmal eine Spur Kölnisch Wasser, bei dessen Geruch er sich heute fühlt wie ein Forscher, der gerade ein letztes Exemplar eines ausgestorbenen, seltenen Vogel aufgescheucht hat.
Irgendwo, im Halbdunkeln, sind die Frauen zur Abendzeit wohl zu finden. Dann flattern ihre hochhackigen Schritte wie früher die Nachtfalter, die in den weißgesichtigen Vorgängern der Natriumdampflampen gefangen waren. Und er geht gebeugten Schrittes hinter ihnen her, weil er sie um den Besitz des Abends beneidet.

Jenseits der Tage

kein Koffer mehr für mich allein

kein Platz unter den Lampions
beim Sommerfest
der Brüder und Schwestern

verloren die Lichtjahre zwischen den Galaxien

das Zittern von Mozarts Taktstock
im Ballon über dem bunten Gestein der Wüste
hat sich gelegt

niemand, der die Tür vor oder hinter mir schließt

dass ich nur wiederfände
am Eingang des Abgrunds
den Geschmack von Brot und Wein

Nachts am Narrenturm

Irgendwo dahinten …

dort, wo Du früher den Bauzaun gesehen hast und die Brennnesselbrache,
dort, wo die Hühnerkäfige standen, die oft auch sehnige Hasen beherbergt haben,
dort, wo die narrischen Kastanibäume sind, genau wie Du es schon früher prophetisch vorhergeschrieben hast,
dort, wo Dein Kurzzeitgedächtnis das Spielwarensortiment, das Du in der Buchhandlung am Eingang gesehen hast, längst schon wieder vergessen hätte,
dort, wo – auch im Dunkeln – noch die allgemeine Hausordnung gilt,
dort, wo die Fahrradfahrer die Nachtfalter nicht sehen können,
dort, wo kein Fiakerpferd mehr den Duft seiner Rossäpfel hinterlässt,

irgendwo dahinten steht er noch immer, der runde Turm, nur ist er in der Nacht urplötzlich, nur ist er in der Nacht klammheimlich quadratisch geworden.

Grünblaue Zelte

In mir werden, an bekannter Stelle, grünblaue Zelte aufgeschlagen sein, weit und groß, als liege ein Pferd drunter. Ich kenne das Licht noch nicht, bei dem Du arbeiten wirst. Ist es hell und kalt? Von einem sanften und nachdenklichen Grau? Oder nimmst Du das blaue Licht zur Hand, das ich immer am Horizont gesehen habe? Vielleicht auch ein annähernd abendliches Licht, damit die Wimpern des großen Pferdes unter den Zelten nicht zu zucken beginnen.

Auch wenn ich dann schon lange kein Herz mehr haben sollte, wird etwas in mir klopfen. Sehr schnell. Das Pferd unter den Decken galoppiert noch und muss erst, Huf für Huf, eingefangen werden.

Ich weiß nichts vom Prozess der Galvanisierung. Rostreinigungsmechanismen kenne ich nicht. Es ist mir unbekannt, wie man Silber putzt oder Metall-Legierungen herstellt. Und in der Stahlveredelung kenne ich mich nicht aus. Wie sollte ich dann ahnen können, was Du mit mir vorhast, bevor ich Dich arbeiten sehen darf.

Den Materialverlust fürchte ich nicht. Und wenn es Liter des Überflüssigen wären, die entnommen würden, und wenn Meter um Meter oxidierte Materie zu entfernen wäre – nicht ein Tausendstel davon würde ich vermissen. Der Zustand postoperativ? Ich weiß nichts darüber. Die Fraktale auf der Herzoberfläche, die sich unaufhörlich ineinander schieben, verraten wenig. An ihren Spitzen aber haben sie die Form von Flammen.

Kunstlektüren

Als du noch klein warst und noch keine Texte lesen konntest, sondern nur Bilder, als du deine Mittagszeit auf dem weichen Sofa im Winkel hinter dem Vorhang verbrachtest beim Bild von St. Bartholomä am Königsee – rühren durftest du dich nicht, denn du warst vorher zur Tür gerannt und hattest laut “Auf Wiedersehen” gerufen und warst dann zurück geschlichen, hinter den Vorhang – als du also, abgemeldet und doch zur Stelle, auf dem Sofa lagst und alle Zeit der Welt hattest, die Ölkleckse auf einem rasch kopierten Gemälde zu studieren, da hast Du ein für alle Mal gelernt, Felswände zu lesen.

Dann kamen allerlei Träume (oder Fernsehbilder): Felswände, dunkelblau, vor dunkelblauen Wolken, Mahler im Hintergrund oder Wagner, dahinter weiß ein paar Lücken für den Abendhimmel, du fliegst und zoomst, wie es dir der Augenblick eingibt, Gesang der Geister über den Wassern, Ossian, Urworte Orphisch, Klopstock, und so weiter und so weiter, alles in Stein gemeißelt, wie es euch gefällt. Du machst Dich, an der Felswand, Kletterroute Grad 6, zum Affen mit der Schreibmaschine und schreibst ein paar Takte am Faust. Und man bewundert dich und gibt dir Schleifen ins Haar und Blumensträuße für die Russischlehrerin mit in die Schule und am Klavier, Spezialkonstruktion für Wunderkinder, lernst Du den kleinen Prinzen kennen und führst mit ihm eine kleine, zarte, allerliebste Konversation (“Für Elise”).

Auf dem Elektroboot am Königssee, dem Schaufelraddampfer am Chiemsee, der Plätte am Toplitzsee, dem Ruderboot am Mälarsee – immer und immer wieder kehrt das Gewitter zurück. Und mit glasklaren Kopf kannst du an der gegenüberliegenden Felswand lesen, ob dir noch beschieden sein wird, das Ufer zu erreichen. Nieder mit Öl und Graphit. Ad fontes (Traunquelle?)! Zurück zu den Tatsachen. Die Rückseite eines Ölbildes besteht aus Leinwand, nicht aus der weiten Welt.

Berlin, General-Woyna-Straße

Da zerkrümelst Du Deinen Käsekuchen
im Eckcafé
während der fremde Hunger
in Variationen
auf Deiner Lichterkette klimpert

überall gleichen die Fassaden hier
der Mütze
an der Deine Parzen einst strickten
– wie wenige Tode
ist das erst her?

noch bist Du
viel zu schwer für den Luftballon
mit dem Du zurück in die Kindheit fliegst
unter jenen Baum
zu jenen Tauben
in jene grünen Tage
als die Versprechen nur gefilmt wurden
aber noch nichts galten
als Du Dein eigener
gütiger Regisseur warst
und die Drehtage
ganz unvergütet blieben.

Ein Tischtuch für den König

Wenn ein Tischtuch ausgebreitet wird
ein weißes Tischtuch aus Seide oder Damast
ein Tischtuch für einen König
und goldenes Geschirr darauf gelegt
und man verkündet Dir
Du werdest noch heute an seiner Seite speisen …

wie erschreckst Du Dich da
weil Dir unvermutet
Großes geschieht

Wenn Du vor eine Tür trittst
eine Milchglastür vielleicht
in einem abgerissenen Haus
und eine Stimme dringt heraus
die Du lange nicht gehört hast
und hinter dem Glas streckt jemand die Hand aus
und Du siehst einen Schatten …

wie erstaunst Du da
weil alle Hoffnungen
kindisch geworden sind im Unverhofften

Wenn er
mit bloßen Füßen
vor seinen Palast tritt
wenn er
mit einem raschen Sprung aus seiner Sänfte steigt
wenn er seinen Purpurmantel ablegt
und Zepter und Krone zu Boden wirft
wenn Du auf seiner Haut
die Flecken erkennst, die Striemen und das Muttermal …

wie spannst Du da
vom großen Sturm zerzaust
die Schwingen Deines Herzens
ihn zu bedecken