Die Blätter und das Alphabet

Es war ein Frühlingstag, als sie erkannte, dass man sie betrogen hatte – sie und auch ihr Kind und alle Kinder, die mit ihm zusammen aufwuchsen.
Es wurde ihr am selben Frühlingstag klar, an dem sie auch realisierte, dass der Frühling sie nicht willkommen hieß. In einem kleinen Park zu wandeln, in dem die Blätter noch ganz frisch waren, unter diesem speziellen Grün der Blätter zu gehen, das kein Gelb und auch noch kein sattes Grün war, das war ihr nicht gestattet. Jeder Baum war ein verbotener Baum. Und verboten war nicht etwa der Verzehr seiner Früchte, sondern das bloße Unterqueren seiner Kronen. Gott hatte sich nicht für sie so viel Mühe mit dem Baum gegeben (und im Übrigen auch für keinen anderen Vertreter der Menschheit, mit all seinen Feinstaub- und Methanausdünstungen). Dieses aufdringliche Rufen und Bewundern ging ihm ganz offensichtlich schon lange auf die Nerven. Und dieses Frühjahr hatte er besonders deutliche Signalfarben gewählt, die ihr sagten: “Halte Dich da fern, das geht Dich nichts an! Das hier hast Du aus der Nähe gar nicht zu betrachten!” Später, wenn das Grün dann längst um einige Nuancen dunkler und damit profaniert sein würde, dann war jeder Voyeurismus erlaubt. Aber keinesfalls jetzt.
Sich um den Frühling betrogen zu fühlen wagte sie nicht. Sie war ein Freund klarer Verbote und einfacher Botschaften, egal ob die von ganz unten oder ganz oben kamen. Aber ein anderer Betrug war zu ahnden, hier, heute und für alle Zeit: Man hatte sie gelehrt, dass es fünf Vokale gebe, das A, das E, das I, das O und das U (beiläufig könnte man erwähnen, dass man sie sogar gelehrt hatte, diese Vokale zu tanzen). Ihrem Kind hatte man gar eine ganze Vokalmonarchie eingeredet: Die genannten Buchstaben, so hieß es, seien Könige (war die Lesefibel dann ein “Buch der Könige”, fragte sie sich). Das war eine Lüge. Der 21445. Regentropfen, der ihr an diesem Frühlingstag auf den Kopf fiel, erweckte die Erkenntnis zum Leben: Zu den Vokalen war auch das Y zu zählen.
Als ihr klar wurde, wie erbärmlich es war, eine solche Erkenntnis erst in ihrem Alter zu haben, nach so vielen Todesfällen, empfangenen Briefen, Gehaltssteigerungen, Einkäufen, Steuerklärungen und sogar einer Geburt, entschied sie sich, den ominösen Königen ihre Gefolgschaft zu verweigern – und gebrauchte fortan knn nzgn vkl mhr.

Ein Gedanke zu “Die Blätter und das Alphabet

  1. Wenn aber das Y im Sommer dunkelgrün geworden ist, spaziere ich um seinen Stamm.
    Nicht nur im Sommer, noch in Herbst und Winter gewinne ich Einsichten und Wissen. Bunte Wälder.

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